Kritik an der AYCO-SEL-Studie 2018

Zirkuskurse verbessern sozial-emotionales Lernen – wirklich?

Da könnte ich in die Luft gehen! Letztens erzählte mir jemand wieder von dieser einen Studie, die zeigt, dass sich Zirkuspädagogik positiv auf sozial benachteiligte Kinder auswirkt. Bei der Frage nach der Quelle kommt nur ein “Och, das weiß ich nicht mehr.” Menno! Ich selbst habe ja ebenso das Gefühl, dass zirkuspädagogisches Arbeiten einen positiven Effekt auf motorisches und/oder soziales Lernen hat. Doch diese eine Studie, die genau das belegt, habe ich immer noch nicht gefunden…

Doch dann war es soweit! Im Januar 2018 habe ich endlich einen Link zu besagter Untersuchung bekommen.

Evaluation of Program Quality and Social and Emotional Learning in American Youth Circus Organization Social Circus Programs.

Die Studie untersucht sowohl die allgemeine Qualität des Lernens, als auch das sozial-emotionale Lernen der Kinder im Speziellen. In diesem Beitrag fokussiere ich mich lediglich auf die Ergebnisse zum sozial-emotionalen Lernen.

SEL-Studie: sozial-emotionales Lernen

An der Studie, die von der amerikanischen Jugendzirkusorganisation (AYCO) organisiert wurde, nahmen Kinder und Jugendliche aus acht amerikanischen Zirkussen teil. Die 6- bis 18-jährigen Teilnehmer*innen hatten im Zeitraum von September 2016 bis Juni 2017 im Schnitt 176 Unterrichtsstunden – in der Größenordnung von 30 bis 489 Stunden. Die Zirkustrainer*innen vergaben in der ersten und letzten Woche der untersuchten Kurse jeweils 1 (gering) bis 5 (ausgeprägt) Punkte für vier verschiedene Verhaltensweisen der Kinder: (1) Emotionen benennen und beschreiben, (2) Emotionskontrolle, (3) Anderen helfen und Gruppenprozesse erfassen, sowie (4) Problemlösung und Handlungsplanung. Die Kurse dauerten zwölf Wochen bis zehn Monate lang. Die Forschungsfrage lautete, ob die sozial-emotionalen Fertigkeiten der Teilnehmer*innen während eines Zirkuskurses wachsen.

Während der Analyse wurden die Kinder und Jugendlichen in sechs Gruppen eingeteilt; je nachdem, wie gut sie in der jeweiligen Kategorie abschnitten. Bei der ersten Erhebung können nur 29% der Teilnehmer*innen den oberen zwei Gruppen zugeordnet werden: ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen hat somit Schwierigkeiten mit der Selbstregulation.

Bei der zweiten Erhebung, am Ende der Zirkuskurse,sind hingegen 46% der Teilnehmer*innen in den oberen zwei Gruppen vertreten. So können am Ende der Kurses mehr Kinder ihre Gefühle selbst regulieren als am Anfang. Innerhalb der vier Skalen verbessern sich die Jugendlichen vor allem bei der Emotionskontrolle die Punkte 1), 3) und 4). verbesserten sich nicht. Zusammenfassend zeigt die SEL-Studie, dass sozial benachteiligte Kinder ihre sozial-emotionalen Fertigkeiten in Zirkuskursen verbessern können.

Konstruktive Kritik an der SEL-Studie

Es ist prima, dass eine Studie versucht hat, zirkuspädagogische Arbeit zu evaluieren und dabei Effekte bei Kindern zu untersuchen. Leider bin ich mit der wissenschaftlichen Qualität der Studie unzufrieden. Die Kritik ist konstruktiv gedacht, um daraus für Folgestudien zu lernen.

Zunächst haben die Autoren*innen die vier verschiedenen Skalen nicht klar beschrieben. Wie genau sollen die Zirkustrainer*innen erheben, dass ein Kind seine Emotionen besser kontrollieren kann? Was ist der Unterschied zwischen einer 1 und einer 2 auf der Bewertungsskala? In der Wissenschaft spricht man von einer Operationalisierung. Verhalten soll messbar und erfassbar sein, um es dann auch analysieren zu können. In der Psychologie gibt es verschiedene standardisierte Tests zur Emotionskontrolle oder Entscheidungsfindung. Warum haben sie keine bewährten Tests in der vorliegende Studie verwendet?

Bezüglich der Zirkustrainer*innen ist unklar, ob diese unwissend gegenüber der Forschungsfrage waren. Ich selbst denke beispielsweise, dass Zirkus positive Effekte hat und viele meiner Kolleg*innen ebenso. Daher wäre es gut, wenn die Zirkustrainer*innen nicht über die Forschungsfrage der Studie Bescheid wissen, damit sie nicht selbst den gewünschten Effekt hineinbringen. So könnte der Einfluss der Pädagog*innen auf das Ergebnis der Studie verringert werden.

Mich hat es außerdem verwundert, dass keine Universität oder staatliches Forschungsinstitut mit ins Boot geholt wurde. Ich denke, dass die Studie so gültiger und nachvollziehbarer hätte werden können. Psycholog*innen, Kognitionswissenschaftler*innen oder Sportwissenschaftler*innen haben bereits viele Grundlagen zur Erhebung von Selbstkontrolle, Emotionen oder methodischen arbeiten gelegt. Die Studie von den Sportwissenschaftlern Heckstein, Faude und Kolleginnen könnte beispielsweise ein guter Ausgangspunkt für eine weitere Forschung sein. Sie erklärt den gesamten Prozess von der Erstellung und Durchführung bis hin zur Analyse einer Trainingsstudie.

Fazit – Stein für Stein

Einerseits wäre es spannend zu untersuchen, welche kognitiven, emotionalen und sozialen Effekte durch Zirkusarbeit entstehen. Andererseits, wäre es auch wichtig zu untersuchen, welche Auswirkungen die Beziehungsarbeit von Trainer*innen zu ihren Teilnehmer*innen hat. Selbst, wenn diese nur für zehn oder zwölf Einheiten zusammenarbeiten und eine Show am Ende steht, ist diese gemeinsame Zeit intensiv und es baut sich eine Beziehung zwischen Teilnehmenden und Anleitenden auf. Welchen Einfluss auf Gruppendynamik und Lernen die Beziehung hat, wäre spannend zu untersuchen.

Ein erster Stein zur wissenschaftlichen Untersuchung der Zirkuspädagogik ist mit der SEL-Studie bereits gelegt. Mit der Ergänzung von psychologischen, kognitions- und sportwissenschaftlichen Methoden kann unsere Arbeit noch weiter erforscht und es können wissenschaftliche Belege für unsere gefühlten positiven Effekte gefunden werden.

One comment

  1. Wirklich sehr interessanter Beitrag! Wieder was neues gelernt 🙂

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